Mein Name ist Andreas Andernach. Ich wurde am einundzwanzigsten vierten neunzehnhundert fünfundfünfzig in meinem Heimatort Bilblingen geboren. Der Name meiner Mutter ist Roswitha Andernach. Sie starb vor mehr als zehn Jahren an einem Schlaganfall. Sie erreichte das hohe Alter von fünfundachtzig Jahren.
Das Grab der Mutter befindet sich auf dem Gemeindefriedhof des Ortes Mistelreuth, der jedermann zugänglich ist. Die Schwester Liselotte Gebhardt, geborene Andernach, zahlt die jährlich ausstehende Grabgebühr von dreißig Euro. Einmal im Monat harkt sie die Erde, pflanzt im Frühjahr die Blumen oder legt im Herbst die Kränze. Sie ist zuverlässig und pflichtbewusst. Sie hat ein markantes Naturell. Sie ist widerstandsfähig, hart im Nehmen wie alle Frauen aus der Andernachschen Linie.
Der Herr Vater Edwin Andernach machte sich kurz nach meinem fünften Geburtstag davon. Nach Amerika, in das gelobte Land, kündigte er frühzeitig das Gehen an. Geld verdienen, die Freiheit genießen, kaufte er sich ein Schiffsticket nach New York. Anfangs schickte er der Mutter Briefe, mit Geld und Fotos. Grüße an mich und meine Schwester blieben aus. Zurückhaltend war der Vater, auch in den Jahren des gemeinsamen Beisammenseins. Er hatte der Mutter die Pflege und die Erziehung der Kinder überlassen.
Den Bauernhof führte die Mutter weiter mit Beständigkeit und Beharrlichkeit. Sie fütterte die Tiere, drehte das Heu, kochte uns Kindern das Mittagessen. Die Hühnerbrühe beherrschte sie. Würzen tat sie die Suppe nach ihrer ganz eigenen Art. Vorkochen, über Nacht stehen lassen, dann wurde sie mit einem hartnäckigen Lächeln serviert.
In jungen Jahren besuchten meine Schwester und ich die Grundschule der Gemeinde Bilblingen. Gute, aber strenge Lehrerinnen taten den Stoff kund. Gehorsam, ohne Milde walteten sie, wahrten die Grundsätze. Schon die Kleinsten hielten das Maul. Mit Strenge wurde das Vergessen der Hausaufgaben geahndet, die Leistungen verglichen. Auf dem Schulhof wurde vorsorglich marschiert. Die Kleinsten in Reih und Glied pfiffen die Gestrengen das Lied. Ehrbar für das Land, für die Gemeinde in den Krieg gehen, die Heimat verteidigen, hielten die Damen in ihren langen dunklen Kleidern die Vorträge. Ein kühler Wind herrschte im Schulhaus. Das modrige Holz wurde von dem Hausmeister lackiert. Es war schon immer so gewesen, munkelten die Älteren. Keines der Kinder lehnte sich auf. Trauen tat sich niemand, denn ein unüberlegtes Wort und schon setzte es was mit dem Rohrstock, der in den meisten Teilen des Landes schon längst in den Kellern verwahrt wurde.
Die Mutter verbot mir und der Schwester in der Schule vom Vater zu erzählen. Bloß nichts an die große Glocke hängen, kein Wort verlieren, nichts flüstern über die Zustände im Hause, über das Fortbleiben des Hausherren, drohte die Mutter morgendlich mit dem Zeigefinger. Die Leute im Dorf redeten. Sie freuten sich über die Fehltritte der anderen. Die Mutter ängstigte sich um den Ruf der Familie. Vorsichtig umging sie jede Frage der Nachbarn nach ihrem Ehemann. Abends schloss sie die Fenster, zog die schweren Gardinen vor.
Aufgegliedert war das Anwesen in das Wohnhaus, die Scheune, einige Tierställe, in denen wir Hühner, Schweine und Ziegen hielten. Ebenso beherbergten wir fünf Katzen und den Haushund. Die Wiesen mit einem angrenzenden Waldstück waren im Gemeinderegister eingetragen.
Eine Selbstverständlichkeit war es, dass die Kinder mit anfassten. Von klein auf wurde gearbeitet. Der Hof, ein Familienbetrieb. Erwischte mich die Mutter beim ausgelassenen Herumtollen mit dem Hund, rügte sie mich , trug mir sogleich das Auswaschen der Bottiche, das Melken der Ziegen auf.
Am meisten hasste ich die Hühner. Den Stall, das Ausmisten mit der Mistgabel. Dreck machten sie alle, aber die Hühner ganz besonders. Außerdem hatten sie nichts weiter als das Gackern, das Flattern mit den Flügeln, das Eier legen, und das uneinsichtige Herumturkeln im Sinn. Nahm die Mutter Samstags das Schlachtbeil, hob sie an, um einem der lästigen Viecher den Garaus zu machen, freute ich mich wie ein Kleinkind, wenn der erste Schnee fiel. Gekonnt, geübt mit den groben Fingern nahm sie ihnen das Leben, zog sie den Hauch, die Essenz des Seins. Sie war die uneingeschränkte Herrscherin, vor der ich achtsam aufsah und klein beigab. Flüsternd setzte ich die Lippen brummte das Ja und Amen in der Kirche.
In den besten Jahren wirkte die Mutter groß und kräftig. Das lange Haar stets gebunden. Umrandung am Hinterkopf. Gezwirbelt, gedreht. Nie sah ich sie mit offenen Strähnen. Lang musste es sein. In sorglosen Träumen wehte das schwarze Haar verspielt ihr um das Kinn, über die Schultern. Ich machte sie mir schön. Stellte sie mir vor, als sie noch jung war, wie sie vor dem Spiegel die Kleider strich, wie sie in ihre Lieblingsschuhe schlüpfte. Sie war immer ordentlich gekleidet. Stets trug sie über den langen Röcken eine blaue Schürze. Obwohl viele Frauen aus dem Ort Hosen trugen, ging sie nicht mit der Mode mit. Sie verachtete die Trägerinnen. Männlich einfältig, presste sie ihre Lippen. Abends, nach dem Abendbrot setzte sie sich meist an die Nähmaschine, machte Ausbesserungen an Hemden und Jacken. Das halbe Dorf kam zu ihr. Später dann, mit dem Alter hing sie mehr und mehr an der Flasche. Bier, Wein, Wodka. Oft schickte sie mich in den kleinen Dorfladen. Nach und nach vernachlässigte sie das Vieh und sich selbst. Hungrig jaulten die Tiere in den Wind bis sich meine Schwester erbarmte.
Von Seiten der Lehrerin wurde mir angeraten, eine Ausbildung zu machen. Die Mutter war auch dafür. Sie meinte, schaden könne das nicht. Das hauseigene Waldstück brauchte dringend Pflege. Äste mussten geschnitten, das Unterholz entsorgt werden. So entschied ich mich für den Forstarbeiter. Ich wusste ja selbst nicht wohin. Jung, dumm und einfältig scherzten die Alten im Dorfgasthof. Mit Anton, dem Vorsteher, ging ich tagtäglich in den Wald, die Wochenenden ausgeschlossen. Eine harte Arbeit, war das Waldgeschäft. Insbesondere das Bäume fällen und das anschließende Zersägen zehrte an meinem Körper. In den Ausbildungsjahren war ich oft krank. Wehleidig blieb ich im Bett, zog die Federdecke über den Hals. Überhaupt war ich eher ein schüchterner, ein ruhiger Junge. Ich sprach nicht viel. Die Worte fehlten mir. Die Mutter beschwerte sich oft über die unheimliche Stille, wenn ich mit ihr im Raum war. Kannst du nicht wenigstens einen Satz von dir geben, nicht wenigstens einen Einzigen, pflegte sie lang gezogen zu sagen. Dafür sprach sie umso mehr. Sicherlich um der beunruhigenden Lautlosigkeit zu entgehen.
In den Neunziger Jahren brachte die Schwester sie in ein Heim. Ich besuchte sie ein einziges Mal, danach nie wieder. Der grässliche Gestank, traf meine Sinne. Schwer atmend verließ ich das Haus. Auf dem Gehweg erbrach ich mich. Die Augen der Mutter, groß, weit, fernab von der Welt, schimpfte sie wie schon in frühen Jahren auf die schlechte Beikost, auf das nicht gemachte Bett. Doch selbst, war sie dem Ekel fremd, empfand den eigenen süßlichen Geruch des Todes als völlige Normalität. Ich versprach wieder zu kommen. Fest drückte ich ihre Hände, fest ineinander gehakt, berührte die Hühnerhaut, die meine. Dem Haus bin ich ferngeblieben, bis zu ihrem Tode. Noch nicht einmal habe ich an ihrer Beerdigung teilgenommen. Was sollte ich da? Heuchlerisch den Tod einer Frau beweinen, die mir zutiefst fremd war. Sicher hätte ich mich ergeben zeigen müssen, bewohnte ich das Haus meiner Kindheits- und Jugendjahre.
Erinnere ich mich an die Jugendzeit, erscheint sie mir heute, als die Glücklichste und Schönste in meinem Leben. Nachdem ich die Lehrjahre hinter mich brachte, bekam ich eine Stelle bei der Gemeinde. Anton, der Vorsteher, hatte während der Arbeit zu tief ins Glas geguckt. Beim Fällen eines überaus großgewachsenen Ahorns fiel der Baum auf seinen Fuß. Glücklicherweise kann man sagen, denn sonst wäre wohl Schlimmeres passiert. Das Laufen fiel ihm nach der Genesung schwer. In den Wald kam er nicht mehr zurück. Die Gemeinderäte zögerten nicht lang. Sie setzten mich zu meinem Glück auf die Stelle.
Hans, der Schlächter, war einer der Kollegen. Sie nannten ihn so, da er eine Leidenschaft für das Jagen und das Ausnehmen hatte. Jedenfalls erzählte er detailgetreu seine Arbeitsweise. Den anderen lief immer ein Schauer über den Rücken, wenn er seine Geschichten Preis gab. Auch stellte er monatlich etwas Wildbrett auf den Tisch. Alles zu einem kleinen Preis. Fragte ich ihn nach dem Jagen, schüttelte er grinsend den Kopf. Heute nicht, ein anderes Mal, zischte er mit einem nasalen Unterlaut.
Meine Neugierde gefiel ihm. Überhaupt mochte er mich. So unterbreitete er mir eines Tages ein Angebot, welches mein Leben maßgeblich beeinflusste.
Am nächsten Morgen holte er mich in der Früh vom Hof der Mutter ab. Ich hatte nichts gegessen, etwas aufgeregt wartete ich in der Dunkelheit. Dem Haushund strich ich übers Fell, beruhigte ihn. Schmeichelnd und zart, tönte ich ihm zu.
Niemand dürfe etwas erfahren. Das absolute Stillschweigen wurde benötigt. Etwas lernen könnte ich, doch vorsichtig müssten wir allesamt sein, nicht unbedingt gesetzestreu wäre das Unterfangen, stellte Hans die Bedingungen.
Angst kannte ich nicht. Mit verschränkten Armen, und ernster Miene, sagte ich, dass ich mich bereit hielt. Hans bräuchte sich keine Sorgen machen. Ich war dafür bekannt, dass ich den Mund nicht auf bekam.
Daraufhin grinste er zufrieden, drückte mir die Hand.
Mit dem alten VW fuhren wir hinaus in den Wald. Hans öffnete den Kofferraum. Zwei Schusswaffen, Gewehre, lange Läufe. Auskennen tat ich mich nicht, doch meine Vermutung wurde wahr. Wir gingen auf die Jagd.
„Hier Kleiner!“, reichte er mir eine der Waffen.
Zitternd packte ich den Kolben. „Muss ich irgendetwas beachten?“, fragte ich unsicher.
„Nur das Ding nicht gegen dich selbst richten“, lachte er. „Halte dich an mich. Ich zeig dir, wie es geht, oder willst du lieber nach Hause?“
„Nein, bestimmt nicht. Es ist nur.“
„Du hattest noch nie eine Waffe zwischen deinen Fingern, was? Fühlt sich groß und mächtig an, oder?“, packte er das andere Gewehr, hob es an und hielt es in meine Richtung, so als würde er im nächsten Atemzug, den Schalter umlegen. „Du zitterst ja, was hast du denn auf einmal?“ Noch immer hielt er das Gerät in Richtung meiner Brust. Dann ließ er es fallen. „Keine Angst mein Kleiner, ich tu dir nichts!“
„Gott sei Dank!“, sagte ich aufatmend. „Ich dachte schon, du wolltest mich umlegen.“
„Ich doch nicht, sehe ich etwa so aus wie ein Mörder?“, zog er eine Armeeplane über das Auto. „Nur eins verfinsterte sich sein Blick. „ Zu keinem ein Wort, das was hier geschieht, bleibt unter uns!“
„Natürlich Hans, aber jagen darf jeder.“
„Nur ich nicht, du Dummkopf! Den Jagdschein haben die Idioten mir abgenommen. Zu wild herum geschossen. Absurd“, erregte er sich.
„Hattest du nicht?“, murmelte ich leise.
Hans schnitt mir das Wort ab. „Ja, den Jakob, habe ich angeschossen. Ins Bein. Vor die Flinte war er mir gerannt, der Blödian. Selber schuld!“
„Mordverdacht“, sagten manche. Stimmt das Hans?“, zielte ich durch die Nacht.
„Jetzt fängst du auch noch damit an. So ein Blödsinn. Leiden konnte ich ihn nicht, aber umbringen? Nein, das passt nicht zu mir. Der Schein ist weg, doch wer einmal ein Jäger ist, ist immer ein Jäger. Von denen lass ich mir nichts sagen. Die höchsten Gerichte in der Stadt. Da lache ich drauf!“
Wir schlängelten uns einen abgelegenen Pfad entlang. Einige Male wäre ich fast über meine Füße und den langen Kolben gefallen. Ich hoffte inständig, dass die Wanderung bald vorbei wäre.
„Hier in der Schonung, da haben die ihr Nachtlager. Ich sag dir eins, nur keinen Bock schießen!“, flüsterte er.
Wir kletterten auf den Jägerstand. Von dort konnten wir die Büsche und Bäume gut einsehen. Der Mond leuchtete das halbschattige Licht in die Landschaft. Hans zeigte mir wie ich das Gewehr anlegen sollte. Ich bezweifelte, dass ich einen einzigen Treffer landete. Noch niemals hatte ich ein Gewehr in der Hand gehabt. Keine einzige Stunde hatte ich geübt. Wie sollte ich ein Tier schießen, wenn ich auf dem Jahrmarkt noch nicht mal den rot gestrichenen Kreis traf. Ich ließ mir die Zweifel nicht anmerken.
Als ob Hans meine Gedanken roch, sagte er. „Für das erste Mal wirst du den Schreckschuss abgeben. Das Töten übernehme ich.“
Zufrieden und etwas sicherer begab ich mich in die Position. Ich stellte mich neben Hans, drückte die Flinte an die Brust, zog den Knauf. Meine Brust verengte sich, schwer fiel mir das Atmen. Ein Knall ertönte, so dass ich die Flinte am liebsten von mir geworfen und zugleich die Ohren zugehalten hätte. Doch ich war es, der getönt hatte, ich, Andreas Andernach, hatte den ersten Schuss abgegeben. Ein Glücksgefühl kam über mich, denn sogleich raschelte, es da draußen. In der Dunkelheit formierten sich die Schatten, bewegten sich die Tiere durch den Wald. Die langbeinigen Viecher aufgescheucht, streiften die Büsche, rannten sie ängstlich durch die Nacht.
Hans legte an, er schoss, eins, zwei, ein drittes Mal. „Erwischt, erwischt“, grinste er vor Freude.
Wir stiegen die knorrigen Holzstufen hinab. Als wir unten waren, holte Hans eine Taschenlampe aus dem Rucksack. Er leuchtete auf den Boden. Am Rande der Schonung, da wo sich die Tannen verdichteten, da wo das Unterholz jedes Durchkommen verhinderte, lag das Reh. Vorsichtig näherte ich mich. Im Schein des Lichts schaute ich auf die geweiteten Augen des Tieres. Sie sahen nicht unglücklich aus, eine Mischung zwischen Neugierde und jugendlicher Forschheit, sprach aus ihnen.
„Jetzt beginnt die Arbeit. Wir schleppen das Tier zum Auto. Es muss zu mir nach Hause, los, pack schon an!“, schimpfte Hans. „Da gibt es nichts zu gucken. Das Tier ist tot oder willst du es wieder lebendig machen?“
Ich griff die warmen Vorderbeine. Überzogen von Haaren. Flauschig verspielt fühlte es sich an. Ich erinnerte mich an die Kinderzeit. Damals bekam ich die Pfoten und Schwänze der Karnickel. An Feiertagen wurde geschlachtet, der Braten kam auf den Tisch. Die Mutter rief, hier Andreas, hier habe ich was für dich. Mit einem Lächeln drückte sie mir dann die weiß, grau oder schwarzhaarigen Pfoten in die Hand. Das Fell behielt sie sich selbst ein. Sie ließ es gerben und legte es dann in die große Holztruhe.
Wir zogen das Reh auf die ausgebreitete Plane. Ich packte die Enden an den Seiten und bedeckte es. Gut verpackt, schnürten wir das Tier zu.
„Jetzt heb mir das Vieh auf den Rücken!“, befahl Hans wissend.
Einen sonderbaren Gurt legte er sich um. Praktisch, genau ausgerichtet für schwere Lasten. Einen Sack Beton hätte gut und gern da befestigt werden können. Ich legte das Reh hinein, wand und zog die Knoten so fest, dass der tote Körper sich nicht von selbst befreien konnte, dass er den Hans im Laufen beeinträchtigte oder lästig abrutschte. Er drückte mir die Lampe in die Hand. Vorneweg marschierte ich.
In dieser Nacht wurde ich erweckt. Verheißungsvoll wallte die Hitze durch meine Adern, tobte das Blut wie ein sprudelnder Geysir.
Einige Wochen später wurde ich Mitglied im Schützenverein. Ich wollte nicht unter dem Mantel der Illegalität jagen. Nein, ich wollte brav und treu nach den Gesetzen der ortskundigen Jäger tätig sein. Nach eifriger Mitarbeit und einer praktischen Prüfung bekam ich den Jagdschein. Meine erstes Gewehr kaufte ich zu einem günstigen Preis einem meiner Vereinsfreunde ab. Dort half man sich gegenseitig. Eine eingeschworene Truppe waren die Männer. Alte und Junge, eine Schiffsbesatzung auf hoher See, würde man am Stammtisch sagen. Sonntags bliesen sie die Fanfaren und wir schossen das Wild. Rehe, Wildschweine, Fasane oder Rebhühner. Gegen Mittag wurde gezählt. Jeder bekam ein Fleischpaket mit nach Hause. Es war eine glücklich Zeit, voller Schulterklopfen und Händeschütteln.
Doch dann rief der Hans an, ob ich nicht genug hätte von diesem Altmännerverein. Überhaupt müsse ich zu ihm stehen und mehr als ein albernes Schnitzel bliebe allemal. An den Verkäufen würde er mich beteiligen. Versprochen, sagte er, hoch und heilig.
Pflichtbewusst ging ich darauf ein. Die nächtlichen Unternehmungen führten wir fort. Es wurden zunehmend mehr. Ich als geübter Schütze traf inzwischen fast jedes Kalb. Mitunter konnten wir beide kaum noch feststellen, welche Kugel, die Todbringende war.
Dann kam der Tag als Hans fortzog, in die Großstadt. Seine Frau hatte eine angeblich bessere Arbeit bekommen und er würde sicher auch bald etwas finden. Ausreden konnte er es ihr nicht und allein wollte er nicht bleiben. So verkauften sie das Haus und die Wiesen. Auf Nimmer-Wiedersehen, verabschiedete er sich.
Seltsam war es ohne den Hans. Das sonntägliche Jagen machte mir nach einem Jahr keinen Spaß mehr. Eine mühsame Pflicht, die Treffen mit den Gockeln. So nannte ich die Waidmänner, da sie mit ihren grünen Uniformen, den Abzeichen und den Federhüten wie aufgeblasene Hähne herum stolzierten. Ich beschloss wie in alten Zeiten, das Jagen auf die Nacht zu verlagern. Wilderei nannten sie das Umtreiben ohne Unterschrift. Geldstrafen, bis zu einem Jahr Haft. Wurde der Missetäter erwischt, dann war es aus.
Nichts hielt mich ab. Ich verwischte die Spuren, achtete auf die Lautlosigkeit und übte das Handwerk vollkommen geschickt aus. Mit der Zeit überkam mich der Mangel der Anerkennung, so begann ich kleine Zeichen zu hinterlassen. Blutspuren, Fellstücke, Hautfetzen. Doch als auch da keiner die Wilderei in den eingefleischten Kreisen zu Gespräch brachte, machte ich die Sache mit den Köpfen. Mit dem Fleischermesser, welches die Mutter seiner Zeit für das Sezieren nutzte, ging ich vor. Gut verpackt in der ledernen Hülle trug ich es stets bei mir.
Vor lauter Grinsen schlug ich die Hände auf die Schenkel. Der treuherzigen Augen der Rehe, wie sie da abgetrennt vom Körper im Moos gebettet darnieder lagen. Rasend tat ich das Werk, schwenkte und schlitzte. Blitzschnell trat ich zur Seite, denn das Blut spritzte jedes Mal frohlockend aus der Halsschlagader. Befreiend war das. Eine Last fiel mir von den Schultern, so als ob ich selbst zum Aderlass angetreten war. Die Hände schmierig führte ich stets eine Flasche Wasser mit mir. Ich kippte, säuberte und sprach das Ave Maria, was die Mutter mich seit der Kindheit gelehrt hatte. Ich ging immer zu Fuß, auch weite Strecken. Zu verräterisch die Reifen, zu laut das Gebrumme des Motors. Während der langen Wanderungen kamen mir die anderen Waidmänner in den Sinn. Der dicke Franz, der hochnäsige Xaver und der gierige Vereinsvorsteher. Sollten sie nur sehen, diese eingebildeten Gockel, dachte ich froh gelaunt.
Siehe da, nicht lang, und die vergilbten Köpfe, die Augen waren das Gesprächsthema unter den Herren Jägern. Ein Verrückter, ein Kranker war es, einer, dem man mit aller Vorsicht begegnen musste. Es war einer, der Tiere nur so zum Spaß tötete, aus Lustempfinden wurde gemunkelt. Sicherlich verging er sich daran, denn die Körper verschwanden regelmäßig. Nur die Köpfe ließ er aus unerklärlichen Gründen liegen.
Eines Tages fragten sie mich, was ich über das gesamte Geschehen dachte. Ich musste mich ernstlich zusammenreißen, dass ich nicht laut losprustete. Ich gestand ihnen, dass der Kerl da draußen, der die unheimlichen Untaten beging und den selbstverständlich keiner von uns kannte, betrachtete man es ganz genau, ja, absolut genau, einen sauberen Schnitt setzte.
Die meisten lachten, sagten freundlich, dass ich mit meinem Zynismus wohl noch mal in der Hölle landen würde und gingen ohne einen Gedanken ihrem Tagesgeschäft nach.
Der Herbst und der Winter kam. Der Schnee verhinderte lange Wanderungen. Er machte Spuren und kein noch so dummer Wilderer würde im Winter sein Unwesen treiben. Ich vertat mich auf den Ausbau der Holzhütte. Ich besserte das Dach und die Wände aus. Von innen dämmte ich das Ganze, mit Schaumstoff. Ich brachte Holz an, machte es mir wohnlich. Für die beträchtlich angewachsene Anzahl an Waffen, Munition, diversen Schlachtmessern und etliche Frauenzeitschriften, stellte ich ein Regal in der Hütte auf. Auch befestigte ich viele Haken. Daran kamen die Seile und Gurte. Einige der Felle und Geweihe schnallte ich ebenso an die Wand.
In ruhigen Stunden, war die Holzhütte mitsamt dem Kellergewölbe, für mich der einzige Platz, an dem ich sein konnte. Hier beschaute ich mir in den Frauenzeitschriften die Körper des anderen Geschlechtes. Hans schenkte sie mir kurz vor seinem Umzug. Wenn meine Frau die sieht, bin ich dran, sagte der Schlächter ängstlich, und drückte mir den Haufen Papier in die Arme.
Inzwischen zählte ich vierzig Jahre. Verheiratet war ich nicht. Auch hatte ich keine Freundin. Aus der Nachbarschaft hatten die Mädchen Interesse angemeldet. Die Rosi war abkömmlich. Sie hatte bisher noch keinen, darum fragte sie mich an einem Nachmittag nach einem Treffen. Unschuldig, nahezu belanglos tat sie. Die Kaffeemaschine liefe stündlich. Warum nicht vorbei kommen und gemeinsam dem Getränk frönen. Über beide Backen grinste sie, stemmte die Hände in ihre breiten Hüften.
Ich blieb standhaft, sagte, vielleicht ein anderes Mal.
Inzwischen war die Schwester ausgezogen. Mit der Mutter lebte ich ein fest auf den Tagesablauf abgestimmtes Leben. In der Stube saßen wir zum gemeinsamen Abendbrot miteinander. Ansonsten arbeitete ich im Forst oder hielt mich in der Holzhütte auf.
Der Mutter verbot ich den Zugang zur Hütte. Ich erzählte ihr, dass sie voll von Werkzeug und lauter Unrat war. Ihr würde alles auf den Kopf fallen, wage sie sich in die Höhle des Löwen.
Sie hielt sich daran, bis sie eines Abends mir auf das Köstlichste das Abendbrot vermieste. Wie immer saßen wir an dem langen Holztisch. Sie am Kopf, ich am Fußende. Die Stehlampe aus der Stadt beleuchtete spärlich den Raum. Es war eine der neuen Stromsparlampen, die ihr die Schwester mitgebracht hatte, eine die es für teuer Geld gab, die aber nichts taugte. Sehen konnte man nichts. Im Halbdunkel getaucht, löffelten wir die Suppe.
„Andreas!“, schaute sie von ihrem Teller auf. Ihre Augen durchdrangen mich wissend. Den Löffel hielt sie, führte ihn langsam zum Mund, öffnete und ließ das Ei darin verschwinden.
„Ja!“, erwiderte ich kleinlaut.
„Du verbirgst etwas vor mir“, musterte ihr Blick mich abfällig.
„Nein Mutter, wie kommst du drauf?“, tat ich als wüsste ich nicht wovon sie sprach.
„Du belügst mich. Du belügst deine Mutter. Was ist nur aus dir geworden!“, ließ sie den Löffel auf den Tisch sausen.
„Ich weiß nicht, wovon du sprichst“, blieb ich standhaft.
„Ich habe mir die Sachen angeschaut. Die Waffen, was hast du bloß vor?“
„Warst du auch im Keller?“, unterbrach ich sie abrupt.
Sie schaute mich an, sah fast durch mich hindurch. „Nein, Andreas. In deinem Keller war ich nicht.“
„Mutter!“, stand ich auf. Entsetzt, wütend war ich darüber, dass sie über das Verbot hinwegschritt. „Kein einziges Mal wirst du in die Hütte gehen. Hast du das verstanden!“ Zur Untermalung zog ich das Fleischermesser, was ich bei mir trug, aus der Schutzhülle. Ich holte aus und rammte die Metallspitze in die Tischplatte.
Die Mutter fuchtelte mit ihren Armen, wild vor dem Gesicht. Sie kreischte, so dass ich ihr am liebsten die Kehle fest zugedrückt hätte.
„Bis du des Teufels, du garstiger Bub!“, rief sie.
Ich setzte mich an den Platz zurück. Die Schatten zogen sich langsam hinter mir zu. Die Suppe aß ich bis auf den letzten Löffel, langsam und bedächtig.
Die Mutter löffelte ebenso. Sie hustete, verschluckte sich. Ängstlich, unruhig schaute sie durch die Gegend. Ihre mütterliche Festigkeit verlor sich. Eine Frau mit eingezogenem Rücken, mit schwächelnden Händen war sie, eine Frau, die keine Ahnung hatte, wie es um das Leben stand.
Ich ging ohne ein Wort, ohne einen Blick. Nicht ein einziges Mal drehte ich mich um. Schnurstracks lief ich über den Hof in die Hütte.
Fest schloss ich die Tür hinter mir zu. Gleich morgen würde ich in den Eisenwarenladen gehen. Vorhängeschlösser bräuchte es, denn der Mutter war nicht zu trauen.
Ich drehte das Kofferradio laut auf. Die Wetterprognosen waren schlecht. Schneien sollte es. Glatteis auf den Straßen. Die Autofahrer im Land wurden gewarnt. Unruhig ging ich zu dem Regal auf dem die Frauenzeitschriften lagen. Die ganz Unterste zog ich vorsichtig heraus. Frauen, knapp bekleidet schauten mich mit ihren großen Rehaugen an. Auf der vorletzten Seite gewahrte ich mehrere Anzeigen. Dienste ganz besonderer Art wurden angeboten. Daneben Bilder von vollbusigen Frauen. Meine Phantasie überschlug sich. Die Brüste unter dem seltsam anmutenden Tigerbikini im Blick, verschaffte ich mir ein wenig körperliche Abhilfe. Die ganze Aufregung, mit der Mutter. Der Einbruch, der kolossale Übergriff, die Anschuldigungen. Das Blut hatte sie mir bis zu den Wangen getrieben. Langsam beruhigte ich mich. Schon seit jungen Jahren half mir die körperliche Ausschüttung, die Befreiung der Flüssigkeiten. Auch wenn die Mutter, die Gemeinde und die gesamte katholische Kirche die Lust und die Reibung für schlecht befand, bei besonders großer Aufregung brachte mich das Handeln auf den erdenden Boden zurück.
Ich betrachtete die Anzeige. Lassen sie sich verwöhnen, von Kopf bis Fuß. Ich verwende die neusten Methoden der Liebeskunst. Kommen sie einfach vorbei, jederzeit ohne Voranmeldung, lockten die schwarz-weißen Sätze.
(Auszug aus „Dunkle Verirrungen“)